Sonntag, 25. Juni 2017

Harry Graham (35)

Ein Gedicht aus »Ruthless Rhymes for Heartless Homes« (1902) über die kindliche Freude an Brennnesseln und Disteln:
Harry Graham: Inconsiderate Hannah
Naughty little Hannah said
   She could make her Grandma whistle,
So, that night, inside her bed
   Placed some nettles and a thistle.

Though dear Grandma quite infirm is,
   Heartless Hannah watched her settle,
With her poor old epidermis
   Resting up against a nettle.

Suddenly she reached the thistle!
My! you should have heard her whistle!
       *       *       *
A successful plan was Hannah's,
But I cannot praise her manners.

Sonntag, 18. Juni 2017

Harry Graham (34)

Das Sonntagsgedicht über einen uns bereits flüchtig bekannten Hund aus »The Motley Muse«:
Harry Graham: A Plea for Ponto

[Sir Frederick Banbury moved in the House of Commons:— »That in the opinion of this House no operation for the purpose of vivisection should be performed upon dogs.«]

When you're studying the habits
   Of the germ of German measles,
      When you're searching out a cure for indigestion,
You may practise upon rabbits,
   Upon guinea-pigs, or weasels,
      If you think that they throw light upon the question;
You may note how bad the bite is
Of the microbe of bronchitis,
   By performing operations upon frogs,
But I've yet to hear the mention
Of a surgical invention
   That can justify experiments on dogs.

I would sooner people perished
   Of lumbago or swine-fever
      (Or, at any rate, I'd rather they should chance it!)
Than that any hound I cherished
   From a »pom« to a retriever,
      Should be subject to the vivisector's lancet.
I know nought of theoretics,
But in spite of anæsthetics
   —Ether, chloroform or other soothing drug—
(Though perhaps I argue wrongly)
I should disapprove most strongly,
   If I found a person puncturing my pug!

If we wish to make a bee-line
   For the chicken-pox bacillus,
      From the hen-house there is nothing to debar us;
We may learn from creatures feline
   What the causes are that kill us
      When we suffer from infirmities catarrhous!
But when dogs' insides we study,
Then our hands and hearts grow bloody,
   And we needn't be a crank or partisan
To display a strong objection
To the so-called vivisection
   Of that animal we style the Friend of Man!

Donnerstag, 15. Juni 2017

Notizen zur Poetik (2)

Noch mehr Notizen zu (meist absichtlich komischen) Gedichten, Fragmente, aufgegebene Aufsätze, Listen, poetologische Gedichte. Weiter geht's!

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Dass immer noch kein Rühmkorf-Auswahlband mit dem unheimlich eingängigen Titel »Wahrheit – Wahnsinn – Vanitas« (Vers aus dem Gedicht »Kleines Totentänzchen«) existiert, muss empören.

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Erich Mühsam reimte Europa auf faux pas.

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So erfreulich poetische »Smash-Hits« bzw. »Lyrik-Hämmer der Saison« (Robert Gernhardt) für Verlag und Publikum auch sein mögen, dem Poeten können sie zum Nachteil gereichen; dann nämlich, wenn er den erfolgreichen Versen nichts Gleichrangiges hinterherschicken kann und in der Folge auf das eine Gedicht reduziert wird.
Ein veritabler Lyrik-Hit jedenfalls gelang dem amerikanischen Schriftsteller Gelett Burgess, der zu Beginn seiner Karriere im Jahre 1895 die Zeitschrift The Lark ins Leben rief, die immerhin 25 Ausgaben lang hielt. In der ersten Nummer erschien sein Vierzeiler »The Purple Cow«, dem er den hübschen ausführlicheren Titel »The Purple Cow's Projected Feast: / Reflections on a Mythic Beast, / Who's quite Remarkable at least« gab. Das einleuchtende Gedicht leuchtet lautet folgendermaßen:
The Purple Cow
I never saw a purple cow,
I never hope to see one;
But I can tell you, anyhow,
I'd rather see than be one.

Wem spricht dieser Paarhuferskeptizismus nicht aus dem Herzen? Das Gedicht erfreute sich entsprechend rasch großer Beliebtheit und wurde in zeitgenössische und spätere Anthologien (etwa in The Faber Book of Nonsense Verse von 1986) aufgenommen, doch alas!, dem Dichter fielen in den folgenden Jahren keine Zeilen ein, die »The Purple Cow« in Sachen Eingängigkeit übertreffen konnten. Das führte zu der etwas seltsamen Entscheidung von Burgess, die Merkverse nicht in seine erste Sammlung A gage of youth. Lyrics from The Lark and other poems (1901) aufzunehmen. Viel wichtiger ist aber seine lyrische Reaktion auf die anhaltende Popularität des Vierzeilers. In der vorletzten The Lark-Ausgabe (1897) kokettierte er:
Confession
Ah, yes, I wrote the »Purple Cow« —
I'm sorry, now, I wrote it;
But I can tell you anyhow
I'll kill you if you quote it.

Ich kann zwar die gewiss interessante Frage, ob sich die Farbe der Milka-Kuh dem Gedicht von Gelett Burgess verdankt, nicht beantworten, möchte aber noch knapp und verkürzt auf die Wirkungsgeschichte des Vierzeilers hinweisen: Carolyn Wells nämlich, die ebenfalls für The Lark schrieb und u. a. als Autorin und Herausgeberin von komischer Lyrik fungierte, konnte in ihrer Anthologie Such Nonsense! (1918) auf die Popularität des Gedichts zählen, also veröffentlichte sie nicht weniger als achtzehn Parodien der »Purple Cow« im Stile der großen englischsprachigen Dichter. Ob sie die Tonfälle von Milton, Shelley, Wordsworth usw. wirklich traf, vermag ich nicht zu beurteilen. Weil aber Edgar Allan Poes »The Raven« bekannt sein dürfte, sei hier die titellose Wiederkäuer-Version zitiert:
Open then I flung a shutter,
And, with many a flirt and flutter,
In there stepped a Purple Cow which gayly tripped around my floor.
Not the least obeisance made she,
Not a moment stopped or stayed she,
But with mien of chorus lady perched herself above my door.
On a dusty bust of Dante perched and sat above my door.

And that Purple Cow unflitting
Still is sitting – still is sitting
On that dusty bust of Dante just above my chamber door,
And her horns have all the seeming
Of a demon's that is screaming,
And the arc-light o'er her streaming
Casts her shadow on the floor.
And my soul from out that pool of Purple shadow on the floor,
Shall be lifted Nevermore!
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Zwei unsinnige, aber wohlklingende Zeilen:

Der Uzi-Verein
lud Luzifer ein.

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Der Nationalsozialist Hanns Johst (1890-1978) amtierte als Präsident der Reichsschrifttumskammer und wurde als Dichter bekannt für sein von der Nazi-Presse begeistert aufgenommenes Drama Schlageter. Seine Karriere endete 1945 verdientermaßen abrupt, Wikipedia gibt Auskunft über seinen weiteren Werdegang: »In der Bundesrepublik konnte Johst schriftstellerisch nicht mehr Fuß fassen, schrieb aber seit 1952 unter dem Pseudonym ›Odemar Oderich‹ Gedichte für die Edeka-Kundenzeitschrift Die kluge Hausfrau

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Die Reimschemata der einzelnen Strophen in Rühmkorfs Gedicht »Auf Sommers Grill« wirken wie zum Teil umgedrehtes Grillgut: abxb cddc effe ghhg ijxi. (Ist das schon Synästhesie?)

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Zwar fehlt mir ein Faible für ländliche Gotteshäuser, und Außentemperaturen über 10° sind mir grundsätzlich verhasst, doch das folgende Gedicht Detlev von Liliencrons übt mit seiner letzten Strophe einen unerklärlichen Reiz auf mich aus:
Dorfkirche im Sommer

Schläfrig singt der Küster vor,
Schläfrig singt auch die Gemeinde,
Auf der Kanzel der Pastor
Betet still für seine Feinde.

Dann die Predigt, wunderbar,
Eine Predigt ohne Gleichen.
Die Baronin weint sogar
Im Gestühl, dem wappenreichen.

Amen, Segen, Thüren weit,
Orgelton und letzter Psalter.
Durch die Sommerherrlichkeit
Schwirren Schwalben, flattern Falter.
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Noch mehr Poetry-Slam-Reime:

Mit Augenringen / von (oder zu) Tauben singen
Kattegatt / hatte satt
Boßeln / mit Friedrich dem Großen
Staubschicht / glaub's nicht
Anschein / pansch Wein
Raubzug / Ausdruck
Vielfraß / Spielspaß
Sichtschutz / Nichtsnutz

Sonntag, 11. Juni 2017

Harry Graham (33)

Aus aktuellem Anlass ein zugegebenermaßen nicht allzu aktuelles Gedicht: Einige erläuternde Strophen zu Großbritannien aus »Baby's Baedeker« (1902):
Harry Graham: Great Britain

The British are a chilly race. 
   The Englishman is thin and tall;  
He screws an eyeglass in his face,  
   And talks with a reluctant drawl. 
›Good Gwacious! This is doosid slow!  
By Jove! Haw demmy! Don't-cher-know!
 
The Englishwoman ev'rywhere  
   A meed of admiration wins; 
She has a crown of silken hair,  
   And quite the loveliest of skins. 
(Go forth and seek an English maid,  
Your trouble will be well repaid.)
 
Where Britain's banner is unfurled  
   There's room for nothing else beside,  
She owns one-quarter of the world,  
   And still she is not satisfied.  
The Briton thinks himself, by birth,  
To be the lord of all the earth.
 
Some call his manners wanting, or  
   His sense of humour poor, and yet  
Whatever he is striving for 
   He as a rule contrives to get;  
His methods may be much to blame,  
But he arrives there just the same.
 
MORAL
If you can get your wish, you bet it  
Doesn't much matter how you get it!

Dienstag, 6. Juni 2017

Notizen zur Poetik (1)

Notizen zu (meist absichtlich komischen) Gedichten, Fragmente, aufgegebene Aufsätze, Listen, poetologische Gedichte. Los geht's!

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In F. W. Bernsteins neuem Band »Frische Gedichte« sind auf Seite 98 folgende Verse zu lesen: »Er wacht auf, und was ist er? / Professor. Doch Goethe: Minister!« Wie bemerkenswert ist das? Ein bisschen schon. Wer nämlich gespaltenen Reimen in der komischen deutschsprachigen Lyrik nachspüren möchte, wird insgesamt nicht vielen Reimpaaren begegnen, dafür einem immer wieder, und zwar eben: »ist er / Minister«. Allein in Bernsteins Sammlung »Die Gedichte« von 2003 ist es gleich zweifach anzutreffen: »Der Vierte – Obacht, Herr Minister! / Direkt vor Ihnen! Ganz vorn! Da ist er!« sowie etwas versteckter: »Senator Radunski, der Doppelminister, / ein zwiefaches Verhängnis ist er.«

Erich Mühsam benutzte das Reimpaar doppelt, und zwar in den Varianten »ist er / Wehrminister« und »Minister / ist er«; Ringelnatz einmal (»Sehr ernste Vize, seht: da ist er! / Das ist der Unterrichtsminister«), Eugen Roth (»Jetzt endlich, an der Reihe ist er – / Da heißts: ›Der Herr muss zum Minister!‹«) und Ror Wolf dito (»Etwa beispielsweise der Minister, / der Justizminister, na, wo ist er?«); und bei Kurt Tucholsky finden sich gar drei Beispiele (die der geneigte Leser sich selbst zusammensuchen darf).
Warum? Wozu? Was finden die Dichter an diesem Reimpaar? Ist das alles nur ein Ausweichmanöver angesichts der Tatsache, dass auf Kanzler nichts reimt, dass sich auf die auf der letzten Silbe betonte Kanzlerin wenig mehr als Gewinn oder ist in reimt und dass sich Präsidenten nur unrein beschimpfen bzw. dann aber auch immerhin schänden lassen? Oder reizt sie das vorsichtige Infragestellen von Autorität, das bei »Ist er / Minister« am Zeilenende ohnehin mitschwingt und manchmal, wie von Walter Mehring, auch explizit formuliert wird: »Und kann er nichts, dann ist er / Zum mindesten Minister«?

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Gutes Zitat von Peter Rühmkorf (aus »Einfallskunde«): »Die gähnende Leere in manchen modernen Gedichten – zumal der neuen Zimperlichkeit. Lyriker, die einfach nicht kapieren wollen, dass auf so eng begrenztem Raum an jeder Stelle was los sein muss.«

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Der schönste, nein: der einzige schöne rührende Reim gelang gewiss der amerikanischen Band The Magnetic Fields in ihrem Song »The Death of Ferdinand de Saussure«:
»I met Ferdinand de Saussure
On a night like this.
On love he said, »I'm not so sure
I even know what it is.«
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Literaturkritik

Manchmal weiß der Mensch noch nicht von
Dummheit, Elend, Not und Leid.
Doch dann liest er ein Gedicht von
Erich Fried. Und weiß Bescheid.

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Ein trochäischer Satz findet sich im Wikipedia-Artikel zum Europäischen Aal: »Aale schlüpfen im Atlantik, in der Saragossasee (in der Nähe der Bahamas).« Bzw.:
»Aale schlüpfen im Atlantik,
in der Saragossasee
(in der Nähe der Bahamas).«
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Poetry-Slam-Reime:

Schau mal: / Blauwal!
wohlfeil / Lo-fi
Leitstern / streit gern
versehentlich / auf Zehen schlich
Schlachtgewimmel / lacht der Himmel
Fafnir / Schaffner
Eiklar / Fighter
Allahu Akbar / Nachbar
Weiberheld / Cyberwelt
Hinterkaifeck / Scheißdreck

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Ich erstand auf einem Bücherflohmarkt vor mehreren Jahren aus Versehen für einen Euro das Buch »Nachts unter Sternen« (1962), das nachgelassene Texte von Ernst Emanuel Krauss versammelt (über den Wikipedia weiß, dass seine Sprüche »1935 u. a. in den Arbeitszimmern von Adolf Hitler und seinem Stellvertreter« hingen). Die Gedichte und Aphorismen sind erwartbar öde (»O goldnes Dämmerblinken / hier unter meinem Baum!«), und so haben mich nur zwei Namen bei der Lektüre wachhalten können: Krauss schrieb unter dem passenden Pseudonym Georg Stammler, das Buch wurde herausgegeben von der Wilhelm Kotzde-Kottenrodt Gemeinde (nur echt mit einem Bindestrich). Na ja, für eine Kaufempfehlung reicht das nicht.

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3 Fremdwortreime von Kurt Tucholsky:

kosten / Boston
Hotels / health
Herrentoiletten / Manhattan

Sonntag, 4. Juni 2017

Harry Graham (32)

Aus »More Ruthless Rhymes for Heartless Homes«:
Harry Graham: Grandpapa

Grandpapa fell down a drain;
Couldn't scramble out again.
Now he's floating down the sewer
There's one grandpapa the fewer.

Donnerstag, 1. Juni 2017

Juni-Sonett

Juni-Sonett

Mir fällt nicht furchtbar viel zum Juni ein:
Ich weiß, dass er durchaus nicht wie der Mai ist,
und dass, sobald er nicht mehr an der Reih ist,
der Juli folgt. War das erschöpfend? Nein?

Na gut, dann diese Fakten hinterdrein:
Es stimmt, dass man im Juni schwitzt und high ist,
und grillend warmes Bier erbricht, das frei ist
von Alkohol. Dann greift man kühn zum Wein,

und bald zum Wodka, den man rasch bereut.
Man ist sich schließlich selbst so wenig wert,
dass man den fetten Wurstsalat mit Ei isst.

Man kotzt vor Scham und Salmonelln erneut,
kurz: Klasse, wenn der Juni uns beehrt,
doch umso schöner, wenn der Scheiß vorbei ist.